In Liechtenstein – meinem Heimatland – wurden die Behörden vor wenigen Tagen auf einen Bauern aufmerksam, auf dessen Hof offenbar mindestens eine Kuh misshandelt wurde. Der Vorfall ist brutal und schlimm und der Aufschrei in der Bevölkerung dementsprechend gross.
Lange habe ich mir überlegt, wie ich meine Gedanken dazu in Worte fassen kann. Denn ich weiss ganz genau, dass viele Menschen schon nach wenigen Worten empört den Kopf schütteln und nicht mehr weiterlesen werden. Dennoch ist es mir ein Anliegen, meine Sichtweise zu erklären. Ob mir das in diesem Text gelingt, werden wir sehen. Einen Versuch ist es wert.
Die misshandelte Kuh war laut Zeitungsberichten trächtig. Offenbar wurde auf sie geschossen und ihr ein Nagel in den Kopf geschlagen. Es sind Bilder, die aus einem Horrorfilm stammen könnten. Und allen Anschein nach wurde dieser Horror tatsächlich auch noch mit dem Handy gefilmt und verschickt. Der Bauer schiebt die Schuld dem Hilfsarbeiter zu. Dieser wiederum ist geflüchtet. Was wirklich passier ist, ist Bestand eines Ermittlungsverfahrens. Wir werden vermutlich in der nächsten Zeit aus den Medien erfahren, was dabei herausgekommen ist. Ebenso wie das Strafmass. Ob die Wahrheit dabei wirklich gänzlich an’s Licht kommt, steht in den Sternen.
Dem sollte jemand einen Nagel in den Kopf hämmern!
Ich hätte die Kommentarspalten in den sozialen Medien garnicht lesen müssen. Was kam, war zu erwarten: Die grosse Empörung. Es wird lauthals nach Vergeltung gerufen, notfalls auch in Selbstjustiz. Mindestens lebenslange und harte Strafen, wenn nicht gleich die Todesstrafe werden gefordert. Es wird beschimpft und getobt. Es ist ein wild brodelnder Topf aus Emotionen.
Man müsste meinen, dass mir das gefalle, dass ich nun an vorderster Front mit allen anderen nach Todesstrafe und Vergeltung brülle. Tue ich nicht. Im Gegenteil.
Denn – und da kommen an den Punkt, an dem wohl viele ihre Empörung direkt gegen mich richten werden – ich rege mich über diese Empörung in der Gesellschaft mehr auf, als über die Tierquälerei des Bauernhofs selbst. So. Ich hab’s gesagt. Da ist sie, meine unbequeme und unbeliebte Meinung. Bitte lies weiter und lass mich erklären warum.
Was zur Hölle?! Warum?
Lasst mich drei Dinge direkt im Voraus klarstellen:
- Ja, ich finde die Tat absolut grausam und furchtbar! Sie ist mit nichts zu rechtfertigen. Niemand hat das Recht so mit einem Lebewesen umzugehen und ich finde, dass die Tat hart bestraft werden sollte.
- Nein, ich glaube nicht, dass alle Bauern so grausam sind, wie die Mitarbeiter auf diesem Hof.
- Nein, ich bin nicht der Meinung, dass alle nicht-Veganer herzlose und brutale Tierquäler sind.
Aber wie komme ich dann zu so einer wahnsinnigen Aussage? Vielleicht fangen wir dazu von ganz vorne an. Denn als ich von der Tat erfahren habe, war ich traurig. Aber nicht geschockt. Wirklich nicht. Zum einen, weil ich mir sehr bewusst bin, dass es schwarze Schafe unter unseren Landwirten gibt, die besonders grausam mit ihren Tieren umgehen und dabei unter dem Radar der Aufsichtsbehörden fliegen oder nur sehr milde oder garnicht bestraft werden.
Viel mehr aber noch, weil ich einen anderen Fokus habe. Denn ich habe mich in den letzten Jahren immer und immer wieder intensiv mit den normalen und legalen Praktiken in der Nutztierhaltung auseinandergesetzt. Mir ist wohl einfach sehr bewusst, wie viel furchtbares ganz legal und normal täglich für tierische Produkte geschieht. Aber vielleicht lässt sich das bildlich besser darstellen:
Wenn ich mir nur die Tat auf diesem Hof ansehe, dann finde ich sie absolut furchtbar und unvorstellbar schlimm. Es ist die Tat eines Einzelnen, eines sogenannten „schwarzen Schafes“. Aber sie ist brutal und grausam. Ich stehe dann bildlich gesprochen gewissermassen vor einem riesigen Müllberg und sehe nur diesen. Wenn man aber weiter heraus zoomt, quasi ein paar Schritte zurück macht, dann sieht man ein grösseres Bild. Dann sieht man nämlich die vielen Tausend Landwirte der Nutztierindustrie allein in der Schweiz. Natürlich erschiessen die wenigsten davon ihre Tiere mehrfach auf dem Hof und hämmern ihnen Nägel in den Kopf. Aber auch sie tun furchtbare Dinge oder bezahlen dafür, dass diese getan werden. Ganz legal und alltäglich. Es ergibt sich sozusagen ein gigantischer Müllberg aus vielen tausend kleinen Müllbergen, neben dem der einst so gross wirkende Müllberg des genannten Quälbauern nun nur noch winzig klein erscheint. (bildlich gesprochen)
Auch wenn es viel mehr dieser „schwarzen Schafe“ geben würde, als ich vermuten würde: es ist fast unmöglich, dass sie so viele Grausamkeiten produzieren, wie die Masse an Qualen der normalen Nutztierhaltung im Rahmen des Tierschutzes. Also ja, ich finde diese Tat furchbar! Aber bei weitem nicht so furchtbar wie die normale Nutztierhaltung. Nicht weil die Grausamkeit in der normalen Nutztierhaltung identisch zu der auf diesem Hof ist, sondern weil die Masse an Grausamkeiten (Quantität) immer überwiegen wird.
Aber das kann man doch nicht vergleichen!
Ach wirklich? Der Vergleich tut weh, sehr sogar. Aber er ist nicht so weit hergeholt, wie es scheint. Besonders deutlich wird das, wenn man sich das Zitat des Tierarztes im Zeitungsartikel vor Augen führt.
„…dann wurde der Kuh mit dem Hammer ein Nagel in den Schädel gehämmert. „Das geht zurück auf frühere Tötungsmethoden“, sagt Werner Brunhart. „
Liechtensteiner Volksblatt, 31.3.2021, „Tierquälerei in Eschen: Kuh brutal getötet“
Einen Nagel mechanisch in den Schädel einer Kuh zu schlagen ist also eine veraltete Tötungsmethode. Zum Glück auch. Aber was machen wir heute? Wir schiessen einen Bolzen in’s Gehirn der Kuh, um sie zu betäuben, bevor sie aufgeschlitzt wird und verblutet. Das geschieht allerdings nicht auf dem Bauernhof, sondern auf dem Schlachthof. Klar, der Nagel ist sicherlich weniger präzise, schnell und hygienisch. Aber in Punkto Brutalität sind die beiden Methoden doch kaum zu unterscheiden, oder? Das Hämmern führt uns die Brutalität nur viel krasser vor Augen, weil wir an Schüsse schon so gewohnt sind.
Oder ist es die Tatsache, dass die getötete Kuh trächtig war, die uns so stört? Ja, das ist furchtbar, aber nicht ungewöhnlich. In der Schweiz ist es nicht verboten, trächtige Kühe zu schlachten. Das ungeborene Kalb verstirbt bei der Schlachtung im Mutterleib, weil es nichtmehr versorgt wird. Selbst Proviande Schweiz sieht dies als ethisch nicht vertretbar an und versucht diese Fälle zu reduzieren. Aber sie geben zu, dass ca. 5.7% der geschlachteten Rinder und Kühe in der Schweiz trächtig sind. Das klingt nach nicht besonders vielen, aber wenn man sich das genauer ansieht, ist jedes 20. Rind/Kuh das in der Schweiz geschlachtet wird, trächtig. Das entspricht jährlich mehr als 23’000 trächtig geschlachteten Rindern/Kühen in der Schweiz!
Zudem muss man sich vor Augen halten, was mit dem Tier ansonsten geschehen wäre. Das Tier war offensichtlich verletzt oder krank und hätte vermutlich vom Tierarzt eingeschläfert werden sollen. Wenn es aber nicht krank oder verletzt gewesen wäre, hätte es wohl noch für einen Moment seinen Dienst auf dem Hof tun müssen (=Kälber gebären) und dann den Weg in den Schlachthof angetreten. Meistens bedeutet dies, dass die Tiere mitten in der Nacht mit heller Beleuchtung auf einen Tiertransporter geladen werden und eng aufeinander gepfercht teils mehrere Stunden zum Schlachthof gefahren werden. Als wäre das alleine nicht schon genug Stress, werden die Tiere anschliessend in Sammelboxen im Schlachthof abgeladen. Dort müssen sie warten, bis sie in die Schlachtstrasse geführt werden, wo sie der Bolzenschuss in den Schädel und das Messer erwarten. In dieser Zeit spüren sie die Angst der anderen Tiere. Sie riechen und hören und spüren die Tötungen vor ihnen. Immer wieder tauchen Videos aus Schweizer Schlachthöfen auf, wo diese Tiere dort auch geschlagen und getreten werden, damit sie sich gegen ihren Willen in die richtige Richtung bewegen.
All das zum Beispiel, blieb diesem Tier erspart. Ich will damit nicht darüber Urteilen, was schlimmer ist, aber darauf aufmerksam machen, dass auch die Alternativen für dieses Tier in der üblichen und legalen Nutztierhaltung kein rosarotes Schlaraffenland wären. Das soll aber die Tatsache, dass dieses Tier offenbar sehr lange leiden musste, bis es endlich sterben „durfte“.
Und dabei habe ich jetzt nur dieTötung des Tieres verglichen. All die teilweise furchtbaren Dinge, die „Nutz“tiere während ihrer Lebenszeit auf Bauernhöfen in der Schweiz erleben aufzuzählen, würde hier den Rahmen sprengen. Du findest aber zum Beispiel einen Artikel zu den Bedingungen in der Eierindustrie hier auf meinem Blog.
Aber wieso sind die öffentlichen Reaktionen schlimmer als die Tat selbst?
Ich freu mich über echtes Mitgefühl mit Tieren. Ehrlich! Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber in solchen Situationen kann ich mich nur sehr bedingt freuen. Denn statistisch gesehen leben in der Schweiz weniger als 3% der Bevölkerung vegan. Demnach müssten also auch die grosse Mehrheit der empörten Menschen tierische Produkte konsumieren. Ich möchte wirklich niemanden verärgern, aber diese Doppelmoral bringt mich zur Weissglut. Dieses Mit-dem-Finger-Zeigen ohne auch nur eine Sekunde die eigenen Handlungen zu überdenken. Selbst täglich mit seinen Einkäufen für die Tötung und Ausnutzung von Tieren zu bezahlen, während man sich heftig über eine einzelne, etwas brutalere Tötung aufregt? Das steht für mich in keinem Verhältnis. Und während ich früher noch die Hoffnung hatte, dass solche Ereignisse Menschen zum Umdenken bewegen, werde ich heute das Gefühl nicht los, dass sie sogar genau das Gegenteil bewirken. Denn dadurch, dass man den bösen Sündenbock benennen kann, wird automatisch das eigene Handeln als das „Gute“ qualifiziert. Im Sinne von „DAS sind die bösen Bauern, die bestraft werden sollten! Ich hingegen kaufe nur von den guten Bauern.“
Das Schwarze Schaf ist sozusagen gefunden und kann nun bestraft werden und somit wäre das Problem dann wohl offenbar erledigt. Und das ist fatal. Denn hinter diesen schwarzen Schafen versteckt sich eine ganze Industrie, eine der grössten Industrien weltweit, die täglich viele Millionen Tiere ausnutzt und Tötet und kumuliert unvorstellbares Leid produziert. Und genau diese Industrie wird täglich von der Mehrheit dieser entrüsteten Menschen finanziert.
Mal ganz schonungslos ehrlich: Den Tieren im Allgemeinen wäre mehr geholfen, wenn es nur noch die schlimmen Tierquäler geben würde und dafür die legale Nutztierhaltung gestoppt werden würde, als wenn alle Tierquäler eliminiert werden würden und nur noch die legale Nutztierhaltung existieren würde. Weil Tausende, die „mittelmässig“ leiden ergeben viel grösseres Leid als sehr wenige, die sehr stark leiden.
Aber genau dieses Umdenken wird durch diese Hetzjagden und Vergeltungsrufe im Keim erstickt.
Täter, die auch Opfer sind
Auch dieses Thema möchte ich ansprechen. Denn bei dem Landwirt aus dem Beitrag soll es sich laut diversen Kommentaren um einen alkoholkranken Menschen handeln. Ein Problem, das bei Landwirten keine Seltenheit sei und eine steigende Tendenz habe, wie zum Beispiel die Landwirtschaftliche Familienberatung Deutschland berichtet.
Die Arbeitsbedingungen für in der Landwirtschaft und auf Schlachthöfen arbeitende Menschen sind hart. Der Preisdruck enorm. Kaum Menschen wollen diese Arbeit verrichten. Ein Grossteil der Menschen die es tun, sind Gastarbeiter mit niedrigen Löhnen, viele aus Osteuropa oder Brasilien.
Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, wo es zum Beispiel völlig normal ist, dass jeder Bauernhof auch „einen Brasilianer“ hat, wie man im Volksmund sagt. Wie rassistisch und problematisch das ist, wurde mir erst später bewusst. Es sind körperlich anstrengende Arbeiten, die auch die Seele belasten. Denn es ist ein Feld voller kognitiven Dissonanzen. Ich kenne Menschen, die auf Landwirtschaftsbetrieben aufgewachsen sind. Alle mir bekannten sind dazu erzogen worden, mit den Tieren ja keine zu enge Bindung einzugehen. Schlussendlich sind sie ja nur da, weil sie Geld bringen. Und das wird dringend benötigt. Dennoch kenne ich bei allen aber auch starkes Mitgefühl und Zuneigung für ihre Tiere. Es sind die typischen Bauern, die von sich sagen, ihre Tiere zu lieben. Und sie dennoch töten lassen. Wie lebt es sich in diesem Spannungsfeld? Wie viele Emotionen werden unterdrückt, weil es eben immer schon so war und so erwartet wird? Oder man stelle sich jemanden vor, der im Schlachthof täglich im Akkord Lebewesen tötet. Es ist nicht möglich, dass es keine Spuren in einem Menschen hinterlässt, wenn er/sie jeden Tag Tiere tötet und zerlegt.
Ich kann es nur erahnen, aber im Endeffekt bleiben einem meiner Ansicht nach doch nur zwei Wege, mit diesen Themen umzugehen, wenn man in der Landwirtschaft oder Schlachtung bleiben möchte. Entweder man stumpft ab (oder betäubt sich, zum Beispiel mit Alkohol) oder man lebt mit der konstanten Belastung des Widerspruchs zwischen dem was man tut und dem was man fühlt. Beides muss einem doch innerlich zermürben ohne dass man sich getraut es zuzugeben. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Die harte Arbeit, die seelische Belastung und der Druck durch Preispolitik, etc. müssen unendlich zermürbend sein.
Aber wir bezahlen dafür, dass Menschen diese Arbeiten verrichten, die wir uns niemals vorstellen könnten zu tun. Im Falle von Schlachtungen sogar Arbeiten, die wir meist nicht einmal ertragen zu sehen. (Wie die Schlachtung eines Rindes abläuft, kann zum Beispiel hier nachgelesen werden) Auch unseren Kindern würden wir keinesfalls zumuten wollen, solch furchtbare Szenen zu sehen. Dennoch wollen wir, dass die erledigt werden. Weil wir nicht bereit sind, auf Wurst, Käse, Eier und Co. zu verzichten. Wir zwingen also durch unsere Nachfrage/unseren Konsum Menschen dazu, in diesem Spannungsfeld zu leben. Und dann, wenn sie darunter zusammenbrechen, nicht mehr klar kommen und in einer Mischung aus Abstumpfung und Verzweiflung schlimme Dinge tun, schreien wir nach Todesstrafen.
Mit welchem Recht?
Berichte zur Tat (Quellen zu einzelnen Aussagen befinden sich in den Verlinkgungen im Text direkt):